Sachverhalt des BAG-Urteils zum Thema tarifvertraglicher Mehrurlaub bei Krankheit

Dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 16.04.2024, Aktenzeichen 9 AZR 127/23 lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Auf das Arbeitsverhältnis zwischen Kläger und Beklagter findet der Manteltarifvertrag (MTV) für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie des Saarlandes Anwendung. Laut dem Manteltarifvertrag hätte dem Kläger grundsätzlich ein jährlicher Urlaubsanspruch von 30 Arbeitstagen zugestanden, davon 20 Tage gesetzlich und 10 Tage als tariflicher Mehrurlaub.

Gemäß § 17 des anwendbaren Manteltarifvertrags besteht kein Anspruch auf den tariflichen Mehrurlaub bei einer Arbeitsleistung an weniger als 3/4 der nach der jeweiligen betrieblichen Arbeitszeiteinteilung (Schichtplan) anfallenden Arbeitstage im Kalendermonat.
Dabei werden unter anderem die Zeiten, in denen die Arbeitsleistung infolge Krankheit nicht erbracht werden konnte – nur wenn die Krankheit auf eine ununterbrochene Dauer von einem Jahr beschränkt bleibt – wie wirklich geleistete Arbeitszeiten angesehen.

Der Kläger wurde mit einem Grad der Behinderung von 30 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Im Zeitraum vom 17. März 2020 bis zum 16. Mai 2021 war der Kläger durchgehend arbeitsunfähig erkrankt, also länger als die tarifvertraglich vorgesehene Grenze von einem Jahr. 

Für das Jahr 2021 gewährte die Beklagte dem Kläger lediglich den gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG)  von 20 Arbeitstagen. Der Kläger machte darüber hinaus drei weitere Urlaubstage aus dem tariflichen Mehrurlaub geltend. Er argumentierte, dass die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit zu Beginn des Jahres 2021 noch keine zwölf Monate angedauert habe, sodass für die Monate Januar bis März 2021 ein anteiliger tariflicher Mehrurlaub entstanden sei. Der Kläger machte zudem geltend, die tarifliche Regelung verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG), da sie zwischen kurz- und langfristig erkrankten Arbeitnehmern differenziere. Er sah eine sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligung von Arbeitnehmern, die krankheitsbedingt länger als zwölf Monate ausfallen.

Entscheidung der Vorinstanz zum tarifvertraglichen Mehrurlaub trotz Krankheit

Das Landesarbeitsgericht Saarland gab dem Arbeitnehmer teilweise Recht und zählte die Monate Januar und Februar 2021 trotz Krankheit als urlaubsbegründende Arbeitszeit, weil die tarifvertragliche einjährige Obergrenze für Krankheitszeiten damals noch nicht überschritten gewesen sei. So hätten ihm drei zusätzliche Urlaubstage zugebilligt werden müssen.

Tarifvertraglicher Mehrurlaub im Lichte von Gleichbehandlungsgrundsatz und Tarifautonomie

Der Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Dies bedeutet, dass vergleichbare Sachverhalte oder Personen mit gleichen wesentlichen Merkmalen auch gleich zu behandeln sind. Unterschiede in den relevanten Umständen erfordern hingegen eine differenzierte Behandlung, die der jeweiligen Eigenart gerecht wird. Differenzierungen sind insofern zulässig, als sie sachlich gerechtfertigt sind und einem legitimen Zweck dienen.

Das BAG prüfte, ob die tarifliche Regelung eine zulässige Differenzierung im Lichte der Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) darstellt. Dabei ist anerkannt, dass Tarifvertragsparteien bei der Ausgestaltung von Zusatzleistungen wie dem tariflichen Mehrurlaub einen weiten Gestaltungsspielraum haben.

Die Differenzierung im Tarifvertrag knüpft hier nicht pauschal an Krankheitszeiten an, sondern an deren langfristige Dauer. Die tarifliche Regelung bezweckt die Begrenzung von Urlaubsansprüchen bei langfristiger Abwesenheit vom Arbeitsleben. Damit soll vermieden werden, dass ein Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub ohne nennenswerte Arbeitsleistung entsteht.

Entscheidung des BAG zum tarifvertraglichen Mehrurlaub bei langer Krankheit

Das Bundesarbeitsgericht hob die Entscheidung des LAG auf und wies die Klage vollständig ab.

Nach § 17 MTV entsteht ein Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub nur, wenn der Arbeitnehmer in einem Kalendermonat an mindestens 75 % der Arbeitstage tatsächlich gearbeitet hat. Dies gilt ausnahmsweise nicht, wenn der Arbeitnehmer unverschuldet – z. B. wegen Krankheit – daran gehindert war, und die Arbeitsunfähigkeit nicht länger als zwölf Monate ununterbrochen andauerte. Die tarifvertragliche Regelung sieht folglich vor, dass bei einer Krankheitsdauer von maximal zwölf Monaten die Arbeitsunfähigkeit den Mehrurlaub nicht verhindert. Wird diese Grenze jedoch überschritten, werden die Monate der Krankheit nicht mehr als „Beschäftigungsmonate“ gewertet.

Im vorliegenden Fall hatte die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit jedoch bereits seit dem 17. März 2020 ununterbrochen bestanden. Da der Kläger am Ende über ein Jahr arbeitsunfähig war, griff die tarifliche Ausnahmevorschrift nicht mehr. Für die Monate Januar bis März 2021 bestand daher auch keine Anspruchsgrundlage für einen anteiligen tariflichen Mehrurlaub, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Jahresgrenze noch nicht überschritten war, da die weiter andauernde Krankheit des Klägers den Anspruch insgesamt zunichtemachte.

Auch sah das BAG die tarifliche Regelung als verfassungskonform an. Eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG liege nicht vor, weil:

  • die Unterscheidung zwischen kurz- und langfristig Erkrankten durch einen sachlichen Grund gedeckt sei,
  • die Zwölf-Monats-Grenze eine typisierende, aber vertretbare Regelung darstelle,
  • der gesetzliche Mindesturlaub unangetastet bleibt und dadurch das arbeitsrechtliche Minimum gewährleistet sei.

Auch im Lichte der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Gleichbehandlung (insbesondere zu personenbedingten Benachteiligungen) hielt das BAG die tarifliche Ausgestaltung für gerechtfertigt und verhältnismäßig.

Das BAG erkennt die Tarifautonomie als zentrales Prinzip des Arbeitsrechts an und betont, dass der tarifliche Mehrurlaub eine überobligatorische Leistung ist, deren Bedingungen die Tarifvertragsparteien grundsätzlich frei gestalten können. Die Begrenzung auf zwölf Monate ununterbrochene Krankheit stellt eine zulässige Differenzierung dar, die weder willkürlich noch unverhältnismäßig ist. 

Bedeutung des Urteils des BAG zum tariflichen Mehrurlaub

Das Urteil stellt klar:

  • Der tarifliche Mehrurlaub kann vertraglich an tatsächliche Arbeitsleistung gekoppelt werden.
  • Tarifliche Regelungen dürfen bestimmen, dass bei durchgehender Arbeitsunfähigkeit von mehr als zwölf Monaten keine Mehrurlaubsansprüche entstehen.
  • Die Grenze von zwölf Monaten Krankheitszeit für den Anspruch ist insgesamt zu betrachten; eine bloße Rückrechnung von einzelnen Monaten gesehen reicht nicht aus.

Die Entscheidung bestätigt die tarifautonome Möglichkeit, den Mehrurlaub anders als den gesetzlichen Mindesturlaub auszugestalten – insbesondere im Hinblick auf Entstehung und Verfall.

Für die Praxis hat dies folgende Bedeutung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber:

  • Arbeitnehmer sollten prüfen, ob tarifliche Urlaubsansprüche tatsächlich entstanden sind oder durch lange Krankheit ausgeschlossen wurden.
  • Arbeitgeber können sich auf tarifvertragliche Einschränkungen berufen, sofern diese wirksam vereinbart und eindeutig formuliert sind.

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