Aktuelle Entscheidung des BAG zur Diskriminierung schwerbehinderter Bewerber
Dem Urteil des BAG vom 23.11.2023 (Aktenzeichen: 8 AZR 165/22) lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die klagende Partei ist schwerbehindert und wurde zweigeschlechtlich geboren, sie bezeichnet sich selbst als Hermaphrodit. Im September 2019 bewarb sie sich auf eine Stellenausschreibung für die Position als „Fallmanager*in im Aufenthaltsrecht“ bei einer Stadtverwaltung. In der Ausschreibung hieß es, dass „schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber“ bei gleicher Eignung bevorzugt berücksichtigt werden würden.
In ihrer Bewerbung bat die Klagepartei darum, im Auswahlverfahren mit der Anrede „Sehr geehrte Herm F“* angesprochen zu werden – „Herm“ sei eine Abkürzung für „Hermaphrodit“. Die Beklagte antwortete am 4. November 2019 mit der Anrede „Sehr geehrte(r) Frau/Herr F“ und lud die klagende Partei zu einem Vorstellungsgespräch am 18. November 2019 ein.
Die Klagepartei sagte am 6. November per E-Mail ab, da sie an diesem Tag bereits einen Termin habe, und bat um einen Ersatztermin. Am 7. November 2019 lehnte die beklagte Stadtverwaltung die Bitte um einen Alternativtermin ab. Zur Begründung führte sie organisatorische Gründe an – insbesondere, dass die Auswahlkommission wegen vieler anderer Termine nicht erneut zusammenkommen könne.
Die Klagepartei reichte im Anschluss am 7. Januar 2020 Klage auf Zahlung einer Entschädigung von mindestens 5.000 Euro wegen Diskriminierung ein. Sie behauptete, sie sei wegen ihres Geschlechts diskriminiert worden, weil die Stellenausschreibung und die Anredeformen nur binäre Geschlechter berücksichtigen würden. Außerdem machte sie geltend, wegen ihrer Behinderung diskriminiert worden zu sein, da ihr trotz rechtzeitiger Absage kein Ersatztermin angeboten wurde, obwohl eine Einladungspflicht nach § 165 SGB IX bestehe.
Voraussetzungen eines Anspruchs auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 GG nicht erfüllt
Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) waren jedoch vorliegend nicht erfüllt. Ein Anspruch auf Entschädigung besteht nur, wenn eine Benachteiligung i.S.v. § 3 Abs. 1 AGG wegen eines in § 1 AGG genannten Merkmals wie zum Beispiel Geschlecht oder Behinderung stattfand.
Die klagende Partei wurde durch die Zurückweisung ihrer Bewerbung zwar iSv. § 3 Abs. 1 AGG benachteiligt. Sie hat aber nicht hinreichend dargelegt, dass sie diese Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. wegen ihrer Schwerbehinderung im Sinne von § 164 Abs. 2 SGB IX erfahren hat.
BAG-Urteil: Keine Diskriminierung aufgrund intergeschlechtlicher Identität
Der Begriff des Geschlechts in § 1 AGG bezieht sich auf die biologische Zuordnung zu einer Geschlechtsgruppe und erfasst auch die geschlechtliche Identität von Menschen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind. Damit sollen zweigeschlechtliche bzw. intergeschlechtliche Menschen vor geschlechtsbezogenen Benachteiligungen geschützt.
Ausschreibungen von Stellen zur Bewerbung müssen daher grundsätzlich geschlechtsneutral erfolgen und sich an Menschen jedweden Geschlechts richten, nicht nur an Männer und Frauen. Die Ausschreibung der Beklagten kann aber auch nur dahin gehend verstanden werden, dass sie sich an Menschen jedweden Geschlechts richten soll: die Jobbeschreibung lautete „Fallmanager*in“. Der Genderstern verleugnet entgegen der Ansicht der Klagepartei nicht die Existenz zweigeschlechtlicher Menschen. Das BAG argumentierte vielmehr, dass der Genderstern gerade dafür verwendet wird, um möglichst alle Geschlechter anzusprechen.
Auch die weitere Formulierung in der Stellenanzeige „schwerbehinderte Bewerberinnen und Bewerber“ schließt andere Geschlechter nicht aus. Die Formulierung bezieht sich zwar nur auf Männer und Frauen. Aus dem Gesamtzusammenhang der Ausschreibung ergibt sich jedoch, dass auch schwerbehinderte zweigeschlechtliche Menschen zu einer Bewerbung aufgefordert werden sollen. Für eine Einschränkung des Adressatenkreises bei schwerbehinderten Menschen fehlen nach Einordnung des BAG jegliche Anhaltspunkte.
Auch die Nichtverwendung der gewünschten Anrede („Herm“) stellte keine Diskriminierung dar. Zwar hatte die klagende Partei schon bei ihrer Bewerbung einen entsprechenden Anredewunsch geäußert. Die Nichtberücksichtigung dieses Wunsches lässt aber nicht auf eine Benachteiligung schließen, da der Arbeitgeber auch unter Berücksichtigung des Schutzes vor Diskriminierungen nicht verpflichtet ist, eine eher unbekannte und unübliche Ausdrucksweise zu verwenden. Zudem hatte die Beklagte hier in ihrer weiteren E-Mail vom 7. November 2019 wunschgemäß die Anrede „Herm“ verwendet. Dieser Gesamteindruck entkräftete die von der klagenden Partei behauptete Diskriminierung, urteilte das BAG.
Einladungspflicht für öffentliche Arbeitgeber bei Bewerbungen von Schwerbehinderten
Ein individueller Anspruch schwerbehinderter Bewerber auf eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch besteht nicht. Für öffentliche Arbeitgeber gilt jedoch die in § 165 Satz 3 SGB IX geregelte Pflicht, schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, es sei denn die fachliche Eignung fehlt offensichtlich. Unterbleibt diese verpflichtende Einladung des öffentlichen Arbeitgebers, so begründet dies regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung. Dies setzt jedoch voraus, dass dem Arbeitgeber die Schwerbehinderung des Bewerbers bekannt war oder er diese kennen musste.
Die Einladungspflicht für öffentliche Arbeitgeber kann sich unter Umständen auch auf einen Ersatztermin erstrecken, wenn der schwerbehinderte Mensch seine Verhinderung vor der Durchführung des Termins unter Angabe eines hinreichend gewichtigen Grundes mitteilt und dem Arbeitgeber das Anbieten eines Ersatztermins in zeitlicher und organisatorischer Hinsicht zumutbar ist. Im Fall der klagenden Partei erfolgte zunächst eine Einladung. Deren Absage durch die Klagepartei erfolgte dann jedoch ohne genaue Begründung, sodass das BAG entschied, dass in diesem Fall kein Anspruch auf einen Ersatztermin bestand. Der Arbeitgeber durfte das Bewerbungsverfahren aus organisatorischen Gründen ohne Ersatztermin mit den anderen Bewerbungen fortsetzen.
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