Rechtlicher Begriff des Anscheinsbeweis 

Der Beweis des ersten Anscheins (sogenannter Anscheinsbeweis) bedeutet, dass man zunächst einmal automatisch von einem gewissen Sachverhalt ausgeht, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Derjenige, der diesen Sachverhalt eigentlich detailliert beweisen müsste (sogenannte Beweislast), hat es also erst einmal leichter, weil er lediglich die Voraussetzungen für den Beweis des ersten Anscheins darlegen muss und keine genaueren Nachweise erbringen.

Ein solcher Anscheinsbeweis kann von der anderen Seite nur entkräftet werden, wenn diese andere Seite konkrete Nachweise vorlegen kann, die auf einen ungewöhnlichen Verlauf des Geschehens hinweisen und daher den Anscheinsbeweis ausnahmsweise widerlegen. Ein bloßes Bestreiten reicht hier nicht aus. 

Beweislast für den Zugang von Kündigungen

Für Kündigungen liegt die Beweislast für den Zeitpunkt der Zustellung der Kündigung grundsätzlich beim Arbeitgeber. Er muss im gerichtlichen Verfahren nachweisen, wann die Kündigung bei dem Mitarbeiter angekommen ist. 

Dabei gilt der Grundsatz, dass eine Kündigung nur dann als am Tag des Briefeinwurfs zugestellt gilt, wenn sie zu den üblichen Postzeiten eingeworfen wurde, sodass man damit rechnen konnte, dass der Empfänger den Briefkasten noch am selben Tag leert und die Kündigung vorfindet. Umgekehrt gilt eine Kündigung, die erst spät abends eingeworfen wurde, regelmäßig erst als für den nächsten Tag zugestellt, da man nicht erwarten kann, dass der Empfänger am späten Abend den Briefkasten nochmal leert und daher davon ausgehen muss, dass er die Kündigung erst am nächsten Tag findet. 

Es ist also nicht nur wichtig, an welchem Tag eine Kündigung eingeworfen wurde, sondern auch zu welcher Uhrzeit, da davon abhängt, ob die Kündigung noch am selben Tag oder erst am nächsten Tag als zugestellt gilt. Der Arbeitgeber ist grundsätzlich beweispflichtig für den genauen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung.

BAG bestätigt Anscheinsbeweis bei Einwurf-Einschreiben

Dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 20.06.2024 (Az.: 2 AZR 213/23) lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Im Arbeitsvertrag der Klägerin war eine Kündigungsfrist von drei Monaten zum Quartalsende festgelegt. Der Arbeitgeber kündigte am 28.09.2021 ordentlich zum 31.12.2021 und versandte die Kündigung per Post als Einwurf-Einschreiben. Laut Zustellnachweis der Deutschen Post AG wurde das Kündigungsschreiben am 30.09.2021 in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen, ohne eine genaue Uhrzeit zu nennen.

Die Klägerin klagte daraufhin gegen die Kündigung und argumentierte, dass das Kündigungsschreiben erst am 01.10.2021 zugegangen sei, da der Zustellungsnachweis lediglich den 30.09.2021 bestätigte, ohne die Uhrzeit der Zustellung anzugeben. Sie war der Ansicht, dass die Zustellung auch außerhalb der üblichen Postzustellzeiten erfolgt sein könnte, sodass ein Zugang frühestens am nächsten Werktag, dem 01.10.2021, angenommen werden könnte. Hätte man den 01.10.2021 als maßgeblichen Zeitpunkt der Kündigung angenommen, wäre das Arbeitsverhältnis erst zum 31.03.2022 beendet worden.

Sowohl das Arbeitsgericht Nürnberg als auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Nürnberg wiesen die Klage in der ersten und zweiten Instanz ab. Das LAG stützte seine Entscheidung auf den Anscheinsbeweis, der durch das Datum der Zustellung gegeben sei. Die Klägerin müsste diesen Anscheinsbeweis widerlegen, indem sie nachweist, ob die Zustellung tatsächlich außerhalb der üblichen Zeiten erfolgte.

Auch das BAG wies die Revision der Klägerin zurück und entschied, dass ein Beweis des ersten Anscheins vorliegt, wonach Mitarbeiter der Deutschen Post Einwurf-Einschreiben in der Regel während der üblichen Postzustellzeiten zustellen. Wie auch schon die Vorinstanzen stellte das BAG klar, dass es nicht darauf ankommt, zu welchen Zeiten in der Umgebung der Klägerin Briefe zugestellt werden. Allein der Umstand, dass das Kündigungsschreiben von einem Zusteller der Deutschen Post in den Briefkasten eingelegt wurde, begründet den Anscheinsbeweis, dass die Zustellung während der üblichen Postzeiten erfolgte. Aus dem Zustellungsnachweis ergibt sich, dass das Kündigungsschreiben am 30.09.2021 in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen wurde und nicht erst am 01.10.2021.

Da die Leerung von Hausbriefkästen von den Bewohnern regelmäßig nach Ende der üblichen Postzustellzeiten erfolgt, ging das LAG Nürnberg in der Vorinstanz zu Recht davon aus, dass das Kündigungsschreiben bereits am 30.09.2021 zugegangen war. Die Klägerin hätte diesen Anscheinsbeweis durch das Vorbringen außergewöhnlicher Umstände entkräften müssen, was sie jedoch unterließ und sich lediglich auf ein Bestreiten mit Nichtwissen beschränkte.

Das BAG sah keine Ausnahme von diesem Anscheinsbeweis. Eine solche Ausnahme wäre nur in Betracht gekommen, wenn die Zustellung von einem anderen Postdienstleister als der Deutschen Post erfolgt wäre, der die Zustellung außerhalb der Arbeitszeiten der Mitarbeiter der Deutschen Post vornimmt.

Rechtssicherheit für Arbeitgeber: Anscheinsbeweis für Zugang von Kündigungen 

Das Urteil des BAG ist aus der Perspektive der Arbeitgeber besonders zu begrüßen und sorgt für mehr Klarheit in der Praxis. Zwar sollte bei der Versendung von Kündigungsschreiben weiterhin bevorzugt das Übergabe-Einschreiben genutzt werden, um den genauen Zeitpunkt der Übergabe an den Empfänger festhalten zu lassen, doch erleichtert das aktuelle Urteil den Arbeitgebern den Nachweis des Zugangs, auch wenn die Kündigung per Einwurf-Einschreiben zugestellt wurde.

Die Richter des BAG orientierten sich an der Rechtsprechung zum Zugang von Willenserklärungen gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) Demnach gilt eine Erklärung als zugegangen, sobald sie in den Machtbereich des Empfängers gelangt, sodass unter normalen Umständen mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist. Bei einem Hausbriefkasten wird daher berücksichtigt, ob die Sendung während der üblichen Leerungszeiten eingeworfen wurde.

Wichtig ist dabei eine allgemeine Betrachtung: Es kommt nicht auf individuelle Umstände wie Krankheit oder Urlaub an, sondern darauf, wann ein durchschnittlicher Empfänger seinen Briefkasten normalerweise leert.

Unklar bleibt, wie ein Arbeitnehmer diesen Anscheinsbeweis entkräften kann, sollte er vorliegen. Um den Beweis zu erschüttern, müsste konkret nachgewiesen werden, dass die Zustellung außerhalb der üblichen Zustellzeiten stattfand, was in der Praxis regelmäßig schwierig zu belegen sein wird. 

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